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Bis an die Schwelle des Krieges: Die vergessenen 1880er
Wie man nun immer den Berliner Kongress beurteilen mag, im Anschluss konnte der große Strippenzieher in der Reichskanzlei noch einmal für gut zehn Jahre die Fäden in der Hand halten, auch wenn sie ihm in der zweiten Hälfte des Jahr- zehnts beinahe entglitten wären. Aber gehen wir der Reihe nach vor.
In Frankreich war die Stimmung vorübergehend friedlich. In Großbritannien hatten Disraelis und Salisburys Konservative 1880 eine empfindliche Wahlniederlage er- litten, ein liberales Kabinett kam ans Ruder. In Russland wurde 1881 der alte diplomatische Haudegen Gortschakow als Außenminister durch den wesentlich konzilianteren Giers ersetzt. Neue russische Annäherungsversuche scheinen Bis- marck zu bestätigen, es gelingt mit dem neuen, nun "Dreikaiserbund" genannten Abkommen das bis dahin isolierte Russland wieder einzubinden. 1884 wird das Bündnis erneuert. Die durch den Beitritt Italiens, dann auch Rumäniens zum nun "Dreibund" genannten Defensivbündnis zwischen Deutschland und Österreich- Ungarn erzeugten Illusionen wurden bereits behandelt. Tatsächlich, und da ist On- ckensicher Recht zu geben, verbesserte diese Verstärkung der Zentralposition für eine Weile die gesamteuropäische Stabilität.
Diese zwischenzeitlich ruhige Phase in Europa erlaubte es, den Blick über seine Grenzen hinaus zu richten. Noch war die Welt nicht vollständig aufgeteilt. Kolonialerwerb war angesagt. Interessanterweise ergab sich für Bismarck auch die Möglichkeit, über eine Zusammenarbeit in Kolonialfragen Frankreich näher zu kommen.
Was Kolonialbesitz, außer Prestige, eigentlich einbringen soll, war einem Realpo- litiker wie Bismarck, der sich ohnehin schon mit der Gefährdung seines Heimat- landes durch die latente Zweifrontensituation auseinandersetzen musste, schwer zu vermitteln. Um Kolonien zu schützen, brauchte man entweder eine starke eige- ne Flotte, oder eine verbündete Seemacht. Beides war weit und breit nicht in Sicht (Großbritannien als einzige Möglichkeit war ja auszuschließen). Warum ließ sich Bismarck dennoch auf das koloniale Abenteuer, das die strategische Situation des Reiches weiter beeinträchtigen musste, überhaupt ein? Tatsächlich waren Bismarcks Ambitionen auf Kolonialbesitz im Jahre 1883 noch sehr gering. Dann sollte es aber zu einem Umschwung kommen.
Beobachten wir hierzu diese Zeitlinie des Jahres 1884:
26.02.: Großbritannien und Portugal schließen ein Abkommen über die Kongo- mündung. Dadurch wäre der belgische Kolonialbesitz praktisch vom Meer abge- schnitten worden.
13.03.: Frankreich, das befürchtete, Afrika könnte komplett an Großbritannien fallen, legt zugunsten Belgiens Protest gegen das Abkommen ein.
15.03.: Noch an diesem Tag meint der britische Botschafter in Deutschland, Rus- sell, "entschlossenen Widerstand" Bismarks gegen das "feurige Begehren" deut- scher Handelskreise zugunsten des Kolonialerwerbs zu erkennen.
17.03.: Der Dreikaiserbund (s.o.) wird erneuert. Bismarck hat den Rücken frei.
08.04.: Bismarck entschließt sich zu handeln.
18.04.: Das Deutsche Reich schließt sich dem französischen Protest an.
24.04.: Deutschland stellt das Lüderitzgebiet in Südwestafrika unter seinen Schutz.
01.06.: Bismarck setzt Großbritannien über die Möglichkeit eines "Handels mit Frankreich" unter Druck.
24.06.: Großbritannien lenkt ein, erkennt den deutschen Kolonialbesitz in Süd-
westafrika an und nimmt vom Vertrag mit Portugal Abstand.
Was wir hier erkennen, ist folgendes: Deutschland konnte französische koloniale Ambitionen nur dann glaubwürdig stärken, wenn es selbst koloniale Interessen vertrat. Wenn die Kolonien aber nur das Mittel waren, was war dann ihr Zweck? Bismarck hatte es bereits früher (vermutlich im Zusammenhang mit italienischen Marokkoambitionen, die er - gegen Frankreich - nicht unterstützte) formuliert: "Die Wahrnehmung, daß Deutschland nicht nur Metz und Straßburg behalten will, sondern den Franzosen die Möglichkeit mißgönnt, in überseeischen Erfolgen eine Entschädigung für die Rheingrenze zu suchen, die Wahrnehmung, daß Frankreich auf allen seinen Wegen Deutschland als Gegner findet, würde die Parteien der Revanche, den Nationalhaß der Franzosen und ihre Energie uns gegenüber wesentlich kräftigen und den Ausbruch des neuen französischen Krieges wes- entlich beschleunigen."
Das Problem dabei ist nur, dass Bismarck derselbe grundsätzliche Denkfehler unterläuft wie 1878 beim Berliner Kongress: Damals bekam Großbritannien die deutsche Leistung für nichts. Ebenso bekommt 1884 Frankreich die deutsche Leistung ohne jede Gegenleistung. Auch wenn zwischenzeitlich in Frankreich Stimmen für eine engere Kooperation mit Deutschland laut wurden, die sich bis zu französisch-deutschen Hegemonialphantasien steigerten, von einem französi- schen Verzicht auf Rache, Revanche und Revision konnte überhaupt keine Rede sein. Bismarck hätte das zuerst fordern sollen, bevor er mit Frankreich kooperiert. Das im o.a. Zitat geäußerte Verständnis für französische Rheingrenzeambitionen ist nicht einmal heute nachvollziehbar und war es zu Bismarcks Zeit sicher noch sehr viel weniger.
Wegen der noch unsicheren britischen Position in Ägypten hat Bismarck aufgrund der möglichen Verknüpfung dieser Frage mit anderen Kolonialproblemen gegen Großbritannien einen Hebel in der Hand. Dennoch veranlasst die o.a. von Bis- marck erkämpfte diplomatische Niederlage Großbritanniens das Kabinett Glad- stone-Granville-Derby nicht zu einem Kurswechsel. Überall, wo Frankreich und Deutschland sich weiteren Kolonialbesitz sichern wollten oder wollen, machen oder machten die Briten ihnen Schwierigkeiten (im Falle Frankreichs sind bzw. waren das Tunis, Ägypten, Tongking und Madagaskar, im Falle Deutschlands To- go, Kamerun, Neuguinea und Ostafrika). Zeitgleich mit der deutsch-französischen Kolonialallianz kommt es aber zum russischen Vordringen in Turkestan und zum Mahdi-Aufstand im Sudan. Großbritannien ist somit vorübergehend in eine isolier- te Position geraten, in "Bismarcks Mausefalle", im Vergleich zu Ägypten sind für Großbritannien alle anderen Fragen zweitrangig. Am 12. März 1885 erkennt Gladstone in einer Unterhausrede den deutschen Kolonialbesitz an. Einen Tag später meint Bismarck bereits, einen "Völkerfrühling" zu erkennen, nicht ohne sogleich irgendwo einen "Loki" zu vermuten.
Tatsächlich handelt es sich bei den Erfolgen der bismarckschen Kolonialpolitik um Augenblickserscheinungen,die sich lang-, teilweise sogar kurzfristig rächen soll- ten. War Bismarcks Erfolg von 1878 auf russische Kosten gegangen, ging der von 1884/85 auf britische. Großbritannien hatte natürlich Motivation, aus der o.a. Mau- sefalle wieder herauszukommen. Außerdem hätte niemand den Briten erklären können, dass der deutsche Kolonialerwerb keinen globalstrategischen Zweck verfolgte. Im Zuge der o.a. Probleme an der Westküste Afrikas war der burische Präsident Krüger mit allen Ehren, auch vom Kaiser, in Berlin empfangen worden. Zugunsten der Buren, die auch ihre Gebiete erweitern wollten, rührte Deutschland allerdings keinen Finger. Das Verwerfen der "burischen Karte" durch Deutschland hatte den Briten sicher die Zustimmung zum deutschen Kolonialreich erleichtert. Eine deutsch-burische Verbindung war dennoch jederzeit möglich und hätte die britische Position in Südafrika gefährden können.
Jedenfalls sollte der "Völkerfrühling" nicht lange vorhalten, nur bis zum 29. März 1885. Russisch-afghanische Zusammenstöße an der gemeinsamen Grenze las- sen (das einzige Mal tatsächlich!) das Gespenst eines britisch-russischen Krieges um Indien am Horizont auftauchen. Am nächsten Tag stürzt in Frankreich das deutschfreundliche Kabinett Ferry und macht einer revanchistischen Regierung mit dem besonders aggressiven Kriegsminister General Boulanger Platz.
Es stellt sich die Frage, ob es sich beim russischen Vorgehen gegen Afghanistan nicht um eine gezielte Provokation gegen die vorangegangene deutsch-britische Verständigung in Kolonialfragen handelt. Deutschland, das 1877/78 in der Darda- nellenfrage gegen Russland aufgetreten war, muss nun nach dem Dreikaiserbund 1881/84 die Dardanellen im russischen Sinn verteidigen (wenn auch in dieser Krise nur diplomatisch). Aus britischer Sicht sieht es so aus, als ob die ge- fürchtete deutsch-russische Verbindung wirksam würde, was die britische Presse sogleich mit Kriegsphantasien quittiert. Auch wenn Deutschland wieder einmal, wie so häufig, nur den Frieden im Sinn hatte, der Bezug für den britischen Arg- wohn war konkret.
Der Ausgang der Affäre wird nun eine erneute diplomatische Niederlage Großbri- tanniens. Die Gefahr für Deutschland, Russland nicht nach Asien ablenken zu können, ist auch Bismarck bewusst. Daran hätte er aber besser 1877/78 schon gedacht. In Großbritannien werden jedenfalls erste Stimmen für eine Verbindung zu Russland laut.
Über die o.a. und andere Probleme stürzt das Kabinett Gladstone, und Salisbury kommt wieder an die Macht, nun als Premier. Das gute Einvernehmen mit Deutschland von 1878 wünscht er sogleich wieder herzustellen. So weit man ihn einschätzen kann, und den Zusammenhang mit den vorangegangenen Ereignis- sen sieht, ist seine Liebedienerei nur dazu geeignet, einen Keil zwischen Russ- land und Deutschland zu treiben. In dieselbe Richtung geht das Anerbieten Ran- dolph Churchills an den jüngeren Sohn Bismarcks (unter Einschluss deutsch-bri- tischer Hegemonialphantasien). Der Vater des deutschen Diplomaten, der ähnli- che Sprüche aus Frankreich und Russland kennt, ist nicht interessiert.
Einen besonders unglücklichen Verlauf nimmt die Bulgarische Krise 1885/86. Der zum Fürsten eingesetzte Alexander von Battenberg war eigentlich eine gute Wahl, hessischem Adel entstammend, hatte er an dynastischen Verbindungen alles, was die europäischen Herrscherhäuser ausmachte, war jung, dynamisch und sehr russlandfreundlich-konservativ eingestellt. Dennoch widersetzte sich Russland seinen Plänen (er hatte sich an die Spitze der bulgarischen Nationalbewegung gestellt), sein Reich auf türkische Kosten zu vergrößern. Eigentlich hätte den Russen ein bulgarischer Machtzuwachs nur recht sein können, ebenso Öster reich-Ungarn ein unabhängig-bulgarischer. Aber man machte Alexander nur Schwierigkeiten. Wer das sonst noch tat, war Bismarck, und zwar im privaten Bereich (wenn es den für gekrönte Häupter überhaupt gibt). Vehement widersetzte er sich der Verlobung Alexanders mit der Kaiserenkelin Viktoria, die schließlich gelöst werden musste. Hätte er die Heirat unterstützt, hätte er Groß- britannien auf die bulgarische Politik festlegen können (zumindest wäre es den Versuch wert gewesen). Aus der bulgarischen Krise hält Bismarck sich raus. Der große Moderator hätte besser ein weiteres Mal moderiert.
Vermutlich waren sich Alexander und sein Namensvetter, der dritte russische Zar dieses Namens, persönlich nicht grün. Außerdem gab sich Russland mit "russ- landfreundlicher" Politik Bulgariens nicht zufrieden, sondern wollte aus dem Land anstelle einer türkischen eine russische Provinz machen. Derartige Ansprüche gingen natürlich zu weit und mussten in Bulgarien Widerstand hervorrufen.
Jedenfalls entlässt Alexander die russischen Minister und setzt sich in den Besitz des bisher türkisch beherrschten Landstrichs "Ostrumelien". Das gefällt den Ser- ben nicht, die um das Kräftegleichgewicht auf dem Balkan fürchten. Sie greifen die Bulgaren an, die Bulgaren siegen auf ganzer Linie. Da stellt sich Österreich- Ungarn auf die serbische Seite und droht den Bulgaren mit Eingreifen. Beide Sei- ten ziehen sich daraufhin auf ihre Ausganspunkte zurück.
In Russland erzeugt die Krise schlechte Stimmung gegen Deutschland und Ös- terreich-Ungarn sowie Geneigtheit zur Beendigung der Dreikaiserpolitik und zum Bündnis mit Frankreich. Das ist Wasser auf die Mühlen der französischen Re- vanchepolitik, die sich gerade jetzt in Gestalt Boulangers deutlich erhebt. Der französische Revanchist Déroulède wird in Russland stürmisch gefeiert. Eine französische Denkmalsinschrift fordert Krieg auf rechtsrheinischem Boden. Österreich-Ungarn spielt in der Auseinandersetzung mit Russland in Gedanken die "polnische Karte". Deutschland ist not amused.
Bismarck gibt Österreich-Ungarn den Ratschlag, eine russische Besetzung der Meerengen zu akzeptieren, denn das russisch besetzte Gebiet am Westrand des Schwarzen Meeres würde dann eine lange, leicht zu durchschneidende offene Flanke bieten (auf den Gedanken hätte er 1877/78 auch schon kommen können). Aber in Wien und Budapest versteht man die strategische Lage nicht.
Die deutsche öffentliche Meinung unterstützt Österreich-Ungarn. In der deutschen Presse kochen wohl erstmals Kriegsphantasien hoch. Sprüche von der Art "nur zur Saturiertheit hätte man sich die deutsche Einheit auch sparen können" werden geklopft.
Alexander wird von pro-russischen Kräften gestürzt und nach Russland entführt, Getreue organisieren einen erfolgreichen Gegenputsch. Alexander, der sogleich in Richtung Österreich-Ungarn ausreisen durfte, kehrt nach Bulgarien zurück, nur um wenige Tage später endgültig seinem Thron zu entsagen.
Untertönig zielte die russische Politik auf die Zerstörung Österreich-Ungarns, und ungarische Politiker gossen über die bulgarische Frage ihrerseits Öl ins Feuer. Russland zeigt sich darüber empört. Deutschland lehnt sich daraufhin wieder enger an Russland an. Was wiederum Österreich-Ungarn empört. Damit ist das Ende jeder Form von "Dreikaiserpolitik" gekommen. Entsprechend unterbleibt die 1887 fällige Verlängerung des Dreikaiserbunds.
Anfang 1887 müssen sich die Spannungen bis an den Rand des Kriegszustands gesteigert haben. Russland sieht wohl keine Chance für ein erfolgreiches Meer- engenabenteuer und liebäugelt lieber damit, die französischen Revanchehoff- nungen anzufachen. Über ein Abkommen mit Italien gelingt es Bismarck in dieser Situation, das bisher abseits stehende, Frankreich beargwöhnende Großbritan- nien ins Boot zu holen (ein Musterbeispiel für die widersprüchliche deutsche Meerengenpolitik, nach dem Abkommen soll Großbritannien wieder die Meer- engen im deutschen Sinne verteidigen), mit an Bord ist der perfide Salisbury. Das kunstvolle Netz Bismarcks mag fürs Erste das europäische Gleichgewicht wieder- hergestellt haben, es konnte aber auf Dauer bei anhaltenden Aggressionsabsich- ten und neuen Konstellationen nicht tragfähig sein.
Welche britischen Hoffnungen sich mit dem Abkommen verbanden, enthüllte eine Salisbury nahestehende englische Zeitung. Sie bezeichnet einen möglichen deut- schen Durchmarsch durch Belgien als "zeitweise Benutzung eines Wegerechts" ohne automatische Kriegsverpflichtung seitens Großbritanniens. Die zeitliche Ko- inzidenz mit dem europäischen Hochspannungszustand ist kein Zufall und kann als Aufforderung Großbritanniens an Deutschland zum Krieg gegen Frankreich gedeutet werden. Kriegsabsichten meint auch Bismarck zu erkennen, und zwar innerhalb Österreich-Ungarns. Er reiht sich als Dritter unter die o.a. Empörten ein.
Jedoch bleiben die britischen Kriegshoffnungen zunächst unerfüllt. Die franzö- sisch-russische Kriegshetze ist bisher nur Emotion, hat noch kein System. Die po- litische Mehrheit in Frankreich ist noch nicht bereit, das Risiko eines Krieges auf sich zu nehmen, von dem absehbar nur Russland und Großbritannien profitiert hätten. So kommt es zum Sturz des Kabinetts Goblet mit dem Kriegsminister Bou- langer und zum Rückversicherungsvertrag zwischen Deutschland und Russland (den sie vor Österreich-Ungarn geheimhalten müssen).
Der Rückversicherungsvertrag enthält nun wieder eine Meerengenklausel zugun- sten Russlands. Ein substanzieller Gewinn sollte sich für Russland daraus nicht ergeben. Bis zum heutigen Tag würde es die Meerengen nicht in die Hand bekom- men.
Bismarcks Politik ist deshalb so erfolgreich, weil er seine Gegner ausmanövriert. Das liegt aber weniger an seinem Geschick, als an deren Unvermögen. Sie soll- ten dazulernen.
Die letzten Jahre der Ära Bismarck sind von anhaltenden, insbesondere deutsch- russischen Spannungen gekennzeichnet. Obwohl die Bulgarische Krise eigentlich nur Verlierer kannte, sah man sich anscheinend in Frankreich und Russland be- sonders betroffen, man hatte auf den Krieg gehofft, ihn aber nicht wagen können. Déroulède unternimmt eine neue agitatorische Rundreise in Russland. An anti- deutschen Kundgebungen beteiligte russische Beamte erhalten Auszeichnungen.
Neue russische Provokationen nimmt Bismarck zum Anlass, sich von der russi- schen Orientpolitik abzukehren, "der Eindruck der Furcht vor einem russisch-fran- zösischen Bündnis soll nicht entstehen" (obwohl der Generalstab die 1871 schon hatte). Nach und nach hat Bismarck von Russland die Faxen dicke. Er verbietet deutschen Banken die Beleihung russischer Wertpapiere und erklärt dem russi- schen Botschafter Schuwalow, bei weiteren Pressionen nicht nur Österreich- Ungarn, sondern auch die Türkei und sogar China (!) gegen Russland mobilisie- ren zu wollen.
Eine deutsche Hinwendung zu Großbritannien (mit dem zu diesem Zeitpunkt noch oberflächlich deutschfreundlichen Salisbury) ist demnach die Konsequenz der Entwicklung. Mit Hilfe eines Orientabkommens verhindert Bismarck zunächst, dass sich Großbritannien von den Meerengen zurückziehen kann (erneuter Schwenk in der deutschen Meerengenpolitik). Salisbury wird die Einschränkung seiner Freihandpolitik als solche empfunden haben. Genauso aber auch die Mög- lichkeit, die ein britischer Kurswechsel bieten würde. Denn die sich abzeichnende französisch-russische Verbindung würde Großbritannien in die "Hinterhand des Spiels" bringen, es konnte Zünglein an der Waage spielen. Die traditionelle, bis- lang unüberwundene Feindschaft zwischen Großbritannien und Frankreich stand der praktischen Umsetzung aber noch im Wege.
Jedenfalls ist zum Ende der Regierungszeit Kaiser Wilhelms I. die politisch-stra- tegische Situation für Deutschland bereits aussichtslos, aber aufgrund der noch bestehenden britischen Neutralität nicht ernst. Im Jahr 1889 kommt es über Samoa zu einem ersten deutsch-amerikanischen Zusammenstoß, wodurch eine neue, das Verhältnis der Mächte entscheidend mit prägende Konfliktlinie sich an- deutet (als solche wirksam bis zum Ende unseres Betrachtungszeitraums 1945).
Konnte Bismarck 1878 noch in London nach einem Bündnis anfragen und die Sache dann einschlafen lassen, und 1885/86 (s.o.) entsprechende britische Ange- bote ablehnen, ist aufgrund der neuen politischen Rahmenbedingungen Salisbury nun in der Lage, Bismarck, der Großbritannien nun wieder ein Bündnis anbietet, auflaufen zu lassen. Die erfolglose deutsche Werbung ist lediglich geeignet, die neue britische Machstellung weiter zu stärken.
Zuletzt stürzt der am Ende seiner außen- wie innenpolitischen Möglichkeiten an- gekommene Großmeister der europäischen Politik darüber, dass er die Einmi- schungen des neuen Kaisers in die Kabinettspolitik nicht dulden will (tiefe inhalt- liche Zerwürfnisse, etwa über die Verschärfung des Sozialistengesetzes und ein gescheiterter Staatsstreichplan gegen den eben gewählten, nun von der Opposi- tion beherrschten Reichstag waren vorangegangen).
Was ist nun von Bismarcks Außenpolitik insgesamt zu halten? Sie, lieber Leser, haben bereits mitbekommen, dass ich die heute noch gängige Bismarck-Beweih- räucherung nicht teile. Sein Ziel, das entstehende "Zeitalter der [verheerenden!, HB] Kriege, mit den mühsamen Anstrengungen einer kunstreichen, aber tradi- tionellen Diplomatie um ein Menschenalter" hinauszuschieben, hat er erreicht. Er hatte aber auch insofern Glück, als dass der Strudel der Gewalten sich erst noch recht langsam drehte, beherrschbar war. In welche Richtung die britische Politik gehen konnte, war zu seiner Zeit absehbar, er hat es auch selbst gesehen. Den- noch fällt die tiefgreifende Verschlechterung der Beziehungen zu Russland in seine Ägide. Die Katastrophe des ersten Weltkriegs hat auch damit zu tun, dass seine Nachfolger, bei allen Unterschieden im Detail, seine Außenpolitik im Grunde fortsetzten. Von Bismarcks Abgang bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs sollten noch knapp 25 Jahre vergehen. Ganz so einfach war Krieg nun doch nicht zu produzieren.
Eins sei hier noch hinzugefügt, eine Einschätzung Onckens der Arbeit von Kolle- gen, als ob sie mir persönlich gelten sollte: "Wenn aber die Historie nachträglich solche anderen Möglichkeiten, die hätten eintreten können, durch eine Kettenrei- he von Konsequenzen zu verfolgen sucht und daraus ihre Maßstäbe und Wertur- teile gegenüber dem Geschehenen entnimmt, so wagt sie sich an Dinge, die nicht ihres Amtes sind." Nein, Herr Professor Oncken, das sehen Sie falsch. Wie ich schon in der Einleitung sagte, Beurteilungen können nur angestellt werden, wenn man sich Alternativen wenigstens ausdenken kann.
Die Darstellung richtet sich im folgenden weit- estgehend nach Oncken, Literaturangabe 1. Ka- pitel dieses Teils. Seitenzahlen ohne Autorenna- me beziehen sich auf sein Werk.
Frankreich friedlich S. 225.
Bismarck hatte Gortschakow zwischenzeitlich als "Feind" bezeichnet, S. 208.
Zu europäischer Stabilität S. 238f.
Profranzösische Kolonialeinstellung Bismarcks
S. 246f. Was im Fall Marokkos Ländern wie Großbritannien und Spanien zu Recht nicht egal sein kann oder auch Italien, zu Unrecht, nicht egal ist.
Bismarcks anfängliche Zurückhaltung in Koloni- alfragen S. 253.
Zeitpunkt des sonst nicht weiter bezeichneten anglo-portugiesischen Vertrages z.B. in http://courses.wcupa.edu/jones/his312/lectures/ber-cong.htm.
S. 257.
S. 254.
S. 263.
S. 258.
ds.
ds.
S. 262f.
S. 263.
Ablehnung "zukünftiger" italienischer Marokko- interessen S. 242f.
Zitat S. 246.
Persönliche Schlussfolgerungen.
Hegemonialphantasien S. 266. Nach Oncken, S. 304, gab es nur zwei Frankreich: eines, das verhohlene Revanchepläne hegt, und eines, das
den Revanchekrieg ganz offen fordert. Pazifis- tische Positionen (wie die von Jean Jaurès) mag
es gegeben haben, aber sie schlugen nie durch.
Es ist dabei noch nicht einmal richtig, Frank- reich reine Engstirnigkeit zu diagnostizieren. Denn, wie Oncken später (S. 677f) meint, macht erst der Revanchegedanke als konstante Größe Frankreich überhaupt als Bündnispartner für die anderen Ententemächte interessant.
Britische Kolonialrivalität:
gegen Frankreich S. 265,
gegen Deutschland S. 267.
Isolation Großbritanniens S. 271f.
"Völkerfühling" S. 276. Der "Loki" ist für Bis- marck der deutsche Parteienhader.
Die Kolonien blieben zwar für eine Weile in deutschem Besitz, der darauf beruhende poli- tische Erfolg war aber von sehr kurzer Dauer,
s.u..
Empfang des Burenpräsidenten S. 261.
Burische Ausdehnungsabsichten S. 268.
Verwerfen der burischen Karte S. 276.
"Pendjeh-Zwischenfall" S. 278, ebenso Hoyer, S. 311.
Sturz Ferrys S. 280 in der Folge einer Nieder- lage französischer Kolonialtruppen in Vietnam.
s.u. S. 279.
Persönliche Schlussfolgerung.
Deutscher diplomatischer Druck zwingt die Tür- kei zur Neutralität, S. 279. Damit scheitern bri- tische Kriegsabsichten.
Britische Reaktion S. 280. Oncken gibt keine Quelle für diese Pressestimmen und die o.a. Kriegsphantasien an.
Eröffnungen Salisburys S. 282, eigene Interpre- tation seiner Motivation.
Äußerungen v. Winston Churchills Vater S.284,
ds. Reaktion des alten Bismarcks. Hier offener Versuch der Instrumentalisierung Deutschlands zur Verteidigung Indiens.
S. 288ff.
S. 264.
Ich meine, ein dergestalt mit deutsch-britischer Autorität versehener Alexander hätte Großbrit- annien auf eine, von Bismarck auch nach St. Petersburg vermittelte, pro-russische Linie ein- schwören können.
Hierzu Wilhelm Müller, Politische Geschichte der Gegenwart: XX. Das Jahr 1886, Springer-
Verlag, Berlin 1887, S. 236ff, insbes. S. 252.
Was ihm gelingt, da laut Wikipedia zum Ser- bisch-bulgarischen Krieg Großbritannien die Türkei am Eingreifen hinderte...
Die Frage ist, ob Österreichern und Ungarn je- mals klar wurde, welcher gravierende Fehler ih- nen hier unterlaufen ist (Motivation war, etwaige serbische Ansprüche von sich abzulenken). Bereits der deutschfeindliche französische Po- litiker Gambetta hatte prophezeit, Serbien wer- de dereinst das "Piemont des Balkan" werden, die österreichisch-ungarische Staatlichkeit und damit die deutsche Machtbasis zerstören (S. 144f).
S. 291.
S. 292.
S. 293.
S. 296.
"Bismarcks Mausefalle II", S. 299, auch Seiten 301 und 327, wo er auf letzterer das "Strata- gem" (Kriegslist) dem österreichisch-ungari- schen Kronprinzen Rudolf und dem soeben Kaiser gewordenen Wilhelm II. predigt, erfolglos.
Hat Bismarck jemals den Plan (natürlich unter Aussparung der hinterlistigen Anteile) in St. Pe- tersburg vorgestellt?
S. 299f. Ein deutscher Präventivkrieg verbot sich natürlich von selbst (vgl. auch die Situation um 1890).
Diese Entführung war ungeheuerlicher Affront ohne historisches Beispiel! (persönliche Bewer- tung) Details Müller, S. 247ff.
S.302.
S. 309f.
Bismarcks Außenpolitik ist damit im Grunde ge- scheitert. Das Tragische an der Bulgarischen Krise ist, dass sie mit der Zerstörung der Drei- kaiserpolitik die Grundlage der Stabilität des Europas des 19. Jahrhunderts zerbricht. (per- sönliche Bewertung)
S. 312ff. Im Grunde handelte es sich um eine Medienhysterie, wie man heute sagen würde. Nahm man sie aber zu ernst, würden auf "Tata-renmeldungen" "Tatareneinfälle" folgen.
"Mittelmeerentente"
Persönliche Schlussfolgerung.
S. 320f., siehe auch den Beginn unserer Bet- rachtungen zum Jahr 1839. Die Willkürlichkeit des britischen Kriegseintritts 1914 durch Salis- burys Adepten ist damit, aus britischer Sicht, eindeutig bewiesen. Natürlich erklärten die Bri- ten 1917 den Artikel als nicht authentisch.
S. 324f. In Fußnote 2, Seite 324, unternimmt Oncken einen Hitler rechtfertigenden Vergleich mit Boulanger. 1933 konnte man die Zukunft ja noch nicht kennen. Unter Umständen hoffte Oncken, Hitler würde genauso rasch stürzen wie Boulanger. Im Nachhinein geht dieser Ver- gleich mächtig nach hinten los. Beide Politiker "verbindet" jedoch, dass sie sich umbrachten.
S. 325.
Persönliche Bewertung.
Längerfristig ist natürlich Großbritannien der Nutznießer der Krise, da das Zerbrechen des Dreikaiserbunds elementare Voraussetzung für die folgende Entwicklung ist.
S. 332.
S. 333.
S. 334.
S. 337ff.
S. 345.
S. 350.
Hoyer, S. 252ff. Ob das Versanden auf einem vom deutschen Botschafters Graf Münster ver- ursachten Missverständnis Disraelis beruht, wie Hoyer meint, muss hier nicht entschieden wer- den.
S. 350f.
Persönliche Bewertung.
S. 381, Bismarck hatte eine "Kabinettsordre" Friedrich Wilhelms IV. hervorgezogen, nach- dem der Verkehr zwischen König und Ministern der Kontrolle des Ministerpräsidenten unterlag. Wilhelm II. ließ sich solches nicht bieten. Bis- marck nennt ihn sozusagen im Gehen den "si- cheren Verderber des Reiches", S. 384. Diese Prophezeiung kommt hier noch auf den Prüf- stand. Vorgeschichte S. 370ff.
Das angeführte ist ein Nietzsche-Zitat, in Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1871 - 1918, Oldenbourg Verlag, München 2008, S. 19. Man liest es nachgerade mit Erschütterung.
Die "Kölnische Zeitung" S. 301, Bismarck selbst
S. 279f.
Was der traditionellen Auffassung widerspricht und im Folgenden zu beweisen ist. Die Isolation Deutschlands zeichnete sich ja bereits zu Bis- marcks Amtszeit ab.
S. 300 Fußnote 2. Wohl "Bismarcks Mausefalle III", in der sich Historiker fangen! Denn hält man sich an Onckens Forderung, muss Bismarcks Nimbus natürlich unangekratzt bleiben.