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"Versailles" und die Revisionspolitik

Ein Hauptanliegen dieser Arbeit ist es, die Ursachen der beiden Weltkriege im Detail und in einer Vollständigkeit herauszuarbeiten, wie sie sonst nicht zu finden ist. Der in Versailles zwischen den Alliierten und Deutschland geschlossene Frie- densvertrag wird sehr häufig als ungerecht und als eine wesentliche Vor- aussetzung für das Zustandekommen des Zweiten Weltkriegs angesehen.  Hier wird in das allgemeine Lamento über "Versailles" jedoch nicht eingestimmt. Die "Ungerechtigkeit" von  "Versailles" mochte als solche gegeben sein, die Folgen von "Versailles" waren aber bereits lange vor 1939 fast vollständig beseitigt. Und überhaupt, warum sollte auf einen ungerechten Krieg ein "gerechter" Friede folgen? Auch stürmten Hitlers Truppen nicht mit dem  Schlachtruf "Rache für Ver- sailles" über die polnische Grenze.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ebenso fehl geht der Vorwurf, das System von "Versailles" wäre in sich instabil gewesen. Immerhin ermöglichte selbst dieses vielgeschmähte System 20 Jahre Frieden für Mitteleuropa. Außerdem war der Erste Weltkrieg nicht  um das Ziel der Stabilisierung Europas geführt worden. Nur für Frieden und Stabilität hätte es wohl ausgereicht, hätten die anderen Mächte Russland gemeinschaftlich eingedämmt. Sondern es ging darum, wie bereits anfangs dieser Arbeit ausgeführt,  Deutsch- land vom machtpolitischen Tablett zu fegen und eine deutsch-russische Ver- bindung zu verhindern, und das wurde ja wohl erreicht!

 

Es spielte auch keine Rolle, dass Deutschland und Russland sich gar nicht ver- binden wollten, sondern es ging darum, dass sie es nicht mehr konnten, darum  wurde der Krieg geführt. Die hauptverantwortlichen angelsachsischen Mächte mussten dafür französische Gewinne in Kauf nehmen. Zum Sieg war Frankreich aber auf angelsächsische Hilfe und später auf angelsächsische Tolerierung an- gewiesen.

 

Aus  der Position der siegreichen Westmächte heraus ist zu fragen, ob sie überhaupt auf ihre Kosten kamen. Für die Angelsachsen kann man das bejahen - zunächst.

 

Das britische Empire hatte sich, mit ungeheurem Aufwand, eine Atempause ver- schafft. Der russische Druck auf die indische Nordwestgrenze war weg, die deut- sche Flotte war weg, die amerikanische Bevormundung verschwand ebenso für eine gewisse Frist. Aber das Empire ging gegenüber den USA hoch verschuldet aus dem Krieg.  Die Schwächung bzw. der Zerfall von Staaten östlich des Rheins beraubten Großbritannien seiner Möglichkeit der politischen Einflussnahme. Die Waage, deren Zünglein man früher gerne spielte, war zerbrochen. Schließlich musste man sich mit einem eigenen Anteil an der Zersplitterung der europäischen Landkarte beteiligen und das aufmüpfige Irland (minus der Nordostprovinz Ulster) davonziehen lassen. Auch die britische Flottenüberlegenheit ließ sich nicht mehr lange aufrechterhalten. Auf der Washingtoner Flottenkonferenz 1922 musste man sich mit den USA auf ein 1 : 1 verständigen. Dass Großbritannien sein Empire ohne fremde Hilfe nicht mehr lange würde halten können, war absehbar.

 

Mit dem Engagement in Europa waren die USA vorerst an ihre Leistungsgrenze gestoßen. Einen Frieden nach ihren Vorstellungen konnten sie nicht erzwingen. Aber mit der gemeinsamen angelsächsischen Chimärenfurcht schwand die amerikanische Motivation, Druck auf Großbritannien auszuüben. Amerikanische Protektorate in Vorderasien waren angedacht worden, scheiterten aber. So konnte die Türkei als einziger Verliererstaat ihr Gebiet mit militärischen Mitteln wieder einigermaßen konsolidieren, das Land schied aber endgültig aus dem Konzert der großen Mächte aus. Der amerikanische Focus wandte sich vorübergehend von Europa ab und richtete sich auf den Pazifischen Ozean, wo man mit Japan den kommenden Hauptgegner meinte aufsteigen zu sehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankreich, das sich einerseits als strahlender Sieger der kriegerischen Auseinan- dersetzung sah, hatte andererseits vom Frieden deutlich mehr erwartet. Zwar ge- traute sich Clemenceau nicht, wie bereits ausgeführt, die komplette Zerstückelung Deutschlands zu fordern. Aber auch die Rheingrenze, oder wenigstens eine mit Hilfe deutscher Separatisten zu schaffende "Rheinische Republik", ließen sich für Frankreich nicht verwirklichen. Mit der Unterschrift unter "Versailles" hatte Deutschland wenigstens seine Einheit gesichert, auch nach dem militärischen Sieg über Deutschland sollte für Frankreich kein Weg an Deutschland vorbei führen. Auch wurde der frühere russische Verbündete schmerzlich vermisst, die kleinen osteuropäischen Staaten, mit denen Frankreich nun Bündnisverträge ab- schließen sollte, waren beileibe kein Ersatz für das verschwundene Riesenreich. Da man in Frankreich selbst nicht meinte, mit "Versailles" ein auf die Dauer stabi- les System geschaffen zu haben und  eine erneute deutsche Invasion voraussah, baute man, so verzweifelt wie sinnlos, das Festungswerk der "Maginot-Linie".

 

Die Siegermacht Italien hingegen, die sich militärisch nicht gerade mit Ruhm be- kleckert hatte, fühlte sich, aus welchen Gründen auch immer, infolge "Versailles" zu kurz gekommen und führte sich wie ein revisionistischer Verlierer auf. Dieses Ressentiment war ein Hauptgrund für den Aufstieg Mussolinis und seiner faschis- tischen Bewegung. Die italienischen imperialistischen Bestrebungen richteten sich aber hauptsächlich gegen den Balkan in Form des zu "Jugoslawien" mutierten Großserbien, Albanien und Griechenland. Es musste aber vorerst niemand vor Italien Angst haben, außer vielleicht Deutschland, dessen angedachte Verei- nigung mit Österreich auf entschiedene italienische Opposition gestoßen wäre.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es wäre nun ein  Leichtes gewesen, das System von "Versailles" stabil zu  halten. Dazu hätte man lediglich gemeinschaftlich Deutschland niederhalten müssen, egal, was die Deutschen dazu sagen. Aber man tat es nicht. Der Begriff "Revisi- onspolitik" bezieht sich üblicherweise auf die Bestrebungen Deutschlands, die Bestimmungen des Versailler Vertrags zu seinen Gunsten abzumildern, ein Un- terfangen, das bis Ende der 1920er Jahre weitgehend erfolglos verlief.  Tatsäch- lich findet etwa ab dem Jahrzehntwechsel eine Revision von "Versailles" statt, und zwar auf Initiative der angelsächsischen Mächte. Worauf  war dieser Sinnes- wandel zurückzuführen?

 

In der Zwischenzeit war die Konsolidierung des durch Niederlage  und Bürger- krieg gebeutelten russischen Reichs in Form der kommunistischen  Sowjetunion erfolgt. Man kann annehmen, dass, obwohl dieser junge und weiter von schweren inneren Verwerfungen gekennzeichnete Staat außer dem alten marxistischen An- spruch auf "Weltrevolution" keine Anstalten machte, das Weltgleichgewicht aus den Angeln zu heben (sein Führer Stalin verfolgte dezidiert die neue Politik des "Sozialismus in einem Land"), angelsächsischerseits hier eine erneute russische Bedrohung vermutet wurde. Dagegen musste das passende, traditionelle euro- päische  Gegengewicht geschaffen werden - ein  wiedererstarktes Deutschland. Eine Entwicklung, bei der Frankreich in die Röhre schaute, was die Angelsachsen mehr als nur billigend in Kauf nahmen.

 

 

 

 

Die Reparationen wurden jedenfalls im Sommer 1932 auf amerikanische Initiative schon aus praktischen Gründen (Deutschland war im Jahr zuvor zahlungsunfähig geworden) bis auf bereits in Privatschulden umgewandelte Anteile annulliert.  Ebenfalls noch vor Hitlers Machtergreifung, am 11.12.1932, erfolgte die Bekun- dung der militärischen Gleichstellung Deutschlands durch Fünfmächteerklärung, ein Erfolg, der dem Reichspräsidenten Hindenburg und dem letzten "Weimarer"  Reichskanzler General Schleicher zuzuordnen ist. Hitlers Aufrüstungskurs war dadurch völkerrechtlich gedeckt.

 

 

 

 

 

In den Verzicht auf Elsass-Lothringen willigte Deutschland 1925 ein, die weitge- hend agrarisch orientierten anderthalb Provinzen waren für Deutschland nicht le- benswichtig. Anders verhielt es sich mit dem "Polnischen Korridor", obwohl klar war, dass der polnische Staat, den man noch im Krieg (Ende 1916) selbst ge- schaffen hatte, einen Zugang zum Meer brauchte, historisch auch innehatte und die Grenze von 1919 mehr   Gebiet Deutschland zuschlug, als es die alte von 1772 getan hatte. Ich möchte betonen, dass es nicht erst Hitler war, der hier Revision forderte, sondern der demokratische deutsche Staat von 1918 - 1933 es nicht vermochte, sich mit der Abschneidung seiner entfernten Provinz  Ostpreußen abzufinden, obwohl auch sie dadurch nicht zugrunde ging.  Die Situation der deutschen Minderheit in Polen wäre das drängendere Problem gegenüber dem Korridor gewesen. Dass die Polen ohne Anerkennung ihrer Grenzen nicht zu Konzessionen gegenüber der deutschen Minderheit bereit waren, ist aus der Sicht der damaligen Verhältnisse verständlich, wenn auch nicht unbedingt zu billigen.

 

 

 

 

Grundsätzlich hat jeder Kriegsverlierer das Ergebnis  des Krieges anzuerkennen, egal, wie hart der folgende Friede ausfällt. Auch unter zivilisierten Völkern gilt das Wort des Gallierhäuptlings Brennus. Akzeptiert man das nicht, lädt man neue Kriegsschuld auf sich. Insofern waren die Deutschen nicht besser als die Fran- zosen, die das Ergebnis von 1871 nicht anerkannten.

 

 

 

 

 

 

Wie aber bereits ausgeführt, war der Zweite Weltkrieg kein Revanchekrieg wegen "Versailles". Die militärische Aufrüstung, die Rückkehr des Saarlands, die Rhein- landbesetzung, der Anschluss Österreichs und des Sudetenlands zeugen von einer großen alliierten Konzessionsbereitschaft. Dennoch brach über die, von den Dimensionen her gesehen, randständige Frage des Polnischen Korridors der Zweite Weltkrieg aus. Mit einem Mal war die alliierte Konzessionsbereitschaft weg. Wie es dazu kam, ist andernorts zu beschreiben, jedenfalls ist auch hier die übliche Sichtweise wesentlich zu ergänzen.

Die üblicherweise aufgestellten Gleichungen "Versailles" + "Weltwirtschaftskrise" = "Hitler" und "Versailles" + "Weltwirtschaftskrise" + "Hitler" = "Zweiter Weltkrieg" verzerren die tat- sächlichen Verhältnisse. Die Lückenhaftigkeit dieser Argumentation ist aufzuzeigen, die Lüc- ken sind zu schließen.

Bei Manfred Rauh (Literaturangabe s. Einleit- ung, Bd. I  S. 135) ist das Lamento über "Ver- sailles" einer der zentralen Punkte seiner Dar- stellung. "Der übermächtigen Gewalt weichend und ohne damit ihre Auffassung über die uner- hörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen aufzugeben,...", so titulierte die deutsche repu- blikanische Reichsregierung ihre Note zur Unter-

schrift unter "Versailles" (Schwabe, Literaturan- gabe s. 6. Kapitel im 2. Teil, S. 650), wodurch sie das Kriegsergebnis im Grunde nicht aner- kannte und dabei auch alle politischen Lager repräsentierte. Deutscherseits führte man an, nicht aufgrund der Kriegsniederlage, sondern aufgrund der Revolution Friedensbereitschaft gezeigt zu haben (obwohl der Bruch mit dem Kaiser von Wilson erzwungen worden war), wobei man gleichzeitig mit dem Widerstand ge- gen den Kriegsschuldartikel die Kontinuität mit dem Kaiserreich wahrte und so das Revoluti- onsargument ad absurdum führte (Ds., S. 660f).

 

I. F. zum größeren Teil persönliche Beobach- tungen und zur Überleitung notwendige Anfüh- rungen weithin bekannter politischer Ereignisse.

 

 

 

 

Eingangsargument 1. Kapitel 1. Teil, die Furcht vor der "Chimäre der deutsch-russischen Ver- bindung" als eigentliche Triebfeder angelsäch- sichen Handelns (die Erarbeitung dieses Motivs ist Manfred Rauh zu verdanken) erscheint im Zuge der Entwicklung ein ums andere Mal er- neut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Solche bez. Armenien und Mesopotamien Par- sons, Parsons (Literaturangabe 4. Kapitel im 2.  Teil), S. 185f.

 

Amerikanische Politik, noch während des Ers- ten Weltkriegs Japan einzuengen, Parsons S. 125ff. Überlegungen zu einem amerikanisch- japanischen Konflikt hatte der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt bereits vor dem Ersten Weltkrieg angestellt (Hannigan, Literatur-

angabe 4. Kapitel im 2. Teil), S. 114f. Nach dem Ersten Weltkrieg trat man amerikanischerseits der japanischen Expansionspolitik in China mal heftiger, mal weniger heftig entgegen, bis man sie dann zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg benutzte (hierzu Stichpunkte im fünften Kapitel des sechsten Teils).

 

 

Zitat im ersten Teil Kap. "Alternative", Christian Rust, S. 131 Anm. 587.

 

 

 

Bei fortgesetztem Widerstand hätte tatsächlich die Aufteilung Deutschlands gedroht, Schwabe, S. 648f.

 

 

Neues Bündnissytem Rauh, S. 141.

 

 

 

 

 

 

Nach Darstellung von Parsons (S. 131) musste sogar noch die italienische Schlussoffensive von

Vittorio Veneto gegen sich bereits in Auflösung

befindende österreichisch-ungarische Gegner von einer Speerspitze britischer Truppen ange- führt werden.

Zu Mussolini Rauh, S. 144, und Parsons, S. 190.

Die Behauptung, die Versenkung des bereits an die südslawischen Besatzungsteile übergebe- nen k.u.k. Schlachtschiffs "Viribus Unitis" wäre schon vor dem Hintergrund der neuen Balkan- rivalität erfolgt (Parsons S. 131, so auch im Wi- kipedia-Eintrag zum Schiff) ist zweifelhaft. In den chaotischen Tagen vor dem Waffenstillstand

kann die italienische Flottenführung den notwen-

digen Überblick dafür nicht gehabt haben. Ent- scheidend dürfte der übersteigerte Ehrgeiz des Flottenchefs sowie des Einsatzführers, der die neue Waffe, einen bemannten Torpedo, selbst aufwändig entwickelt hatte, gewesen sein, die- sen noch vor Kriegsende erfolgreich zum Ein- satz zu bringen (so suggeriert von Paul Kemp, Bemannte Torpedos und Klein-U-Boote im Einsatz 1939 - 1945, Motorbuch-Verlag, Stutt- gart 1999, S. 17).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Den "russischen Erbfeind in Asien" sieht der britische Außenminister Austen Chamberlain bereits wieder im Jahre 1926 (Rauh, S. 319).

Die Entwicklung bedeutete nicht nur das Ende der französischen Hegemonialpolitik (ds., S. 331), sondern praktisch bereits das Ende der eigenständigen französischen Außenpolitik, wenn man von den letzten Endes erfolglosen Versuchen einer Wiederbelebung in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts absieht.

 

 

 

 

 

Ds., S. 164.

<Einfügung 03.07.2019>: Leserkritik, die Gleich- stellung sei nur "grundsätzlich" erfolgt, tatsäch- lich hätten Großbritannien und Frankreich, als es konkret werden sollte, lange Übergangsfristen gefordert, trifft sachlich zu. Den Umstand zu be- werten ist jedoch eine andere Sache. Ankündi- gungen nicht umzusetzen bzw. nachträglich in Frage zu stellen kann man auch als diplomati- schen Betrug ansehen. Deutschland jedenfalls trat daraufhin ais dem Völkerbund aus.

 

Ds., S. 152.

 

 

 

 

 

 

 

Sehr empfehlenswert zum deutsch-polnischen Verhältnis der Zwischenkriegszeit ist die Magis- terarbeit von Thomas Kees: "Polnische Greuel", Der Propagandafeldzug des Dritten Reichs ge- gen Polen, Universität Saarbrücken 1994, aus dem Internet herunterladbar: http:// scidok. sulb.uni-saarland.de/volltexte/2003/95/pdf/ Polnische_Greuel.pdf, dort S. 16ff die Nichtan- erkennung der neuen Ostgrenze durch die Weimarer Republik, was bis zum absurden Protest gegen den reichsweit einheitlichen An- strich von Eisenbahnschranken in "polnischem" Rot-Weiß ging (S. 23).

 

 

Vae victis! Fehlgehend dagegen der kaiserliche Außenminister Hintze, der meinte, Deutschland hätte eine juristische Grundlage zur Revision des Friedens besessen, weil dieser eben gera- de nicht auf der Basis von Wilsons 14 Punkten zustande kam (Schwabe S. 182, der sich offen- sichtlich Hintzes Position anschließt). Ein Krieg wird durch überlegenen Einsatz militärischer Machtmittel entschieden, nicht durch irgendwel- che Verlautbarungen.