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Der Nationalsozialismus als selbstzerstörerische Volksidiotie

"Es konnte ja keiner wissen, was dabei herauskommen würde." Dieser Standard- spruch aller Mitläufer ist sattsam bekannt. Nur, stimmen tut er nicht. Man war zu Genüge gewarnt worden, und zwar nicht nur vom politischen Gegner der Nazis. "Hitler bedeutet Krieg", hatte die KPD skandiert, und das Lied von den "morschen Knochen", bereits vor der Machtergreifung geschrieben und dann zur Hymne der Hitlerjugend avanciert, sagt bereits alles, und zwar im Detail! "Musste man doch nicht ernst nehmen." Aber genau darum geht es. Nicht ernst nehmen, ignorieren, Ignoranz, Idiotie.

 

Der Vorwurf der Idiotie trifft dabei nicht nur die Dummen, sondern gerade die Intel- ligenten unter den Anhängern und Mitläufern der Nazis. Idiotie heißt, Ziele und Mittel schließen sich gegenseitig aus, man erreicht also das  Gegenteil des eigentlich Erstrebten. Angst haben muss man vor dem Krieg keine, man über- schätzt sich so sehr, dass  man meint, der morsche Rest der Welt stürzt bei der leisesten Berührung in sich zusammen. Man ist sich der Folgen seines  Handelns vollkommen bewusst, und ebenso bewusst ignoriert man sie. Mich  erinnert das an "Jackass"-Verhalten, waghalsige  Stunts, nicht selten lebensgefährlich, aber attraktiv anzuschauen, und dafür tut man alles. So wird das eben auch im Eng- lischen als Deppenverhalten bezeichnet. Der etwas zurückhaltendere, reifere Teil der Bevölkerung will vielleicht nicht dezidiert Krieg, hat aber auch nicht wirklich etwas dagegen. Und auch das im vollen Bewusstsein der Folgen.

 

Hitlers stechender Blick, sein hartes Gesicht mit einem lippenlosen, wie mit einem Beil hineingeschlagenen Mund und seine markerschütternde Stimme hätten eigentlich jedem das Blut in den Adern gefrieren lassen müssen. Angesichts Hitlers und seines Leichengeruch verströmenden, primitiven, rohen und gefähr- lichen braunen Packs wäre abgrundtiefer Ekel die angemessene Reaktion gewesen. Dazu mussten wenigstens aus "Mein Kampf" die gegen Deutschland gerichteten Untertöne von Hitlers Propaganda bekannt gewesen sein. Das alles wurde von seiner stetig wachsenden Anhängerschaft ignoriert, billigend in Kauf genommen oder begeistert aufgesogen. Ich denke, dass die üblichen Erklärungs- muster wie die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die demütigenden Bestimm- ungen des Versailler Vertrags, der tradierte Antisemitismus und die  allgemein genossene "Prügel-Erziehung" nicht ausreichen.

 

Es ging  beim Nationalsozialismus dezidiert darum, sich das Nachdenken zu er- sparen. Die strikte, sakrosankte Leitlinie der "Lehre" sollte die "Menschen" (dieje- nigen, die nach der Lehre als Menschen zählen) von der Last des Zweifels befrei- en. Als Form des Antimodernismus ist der Nationalsozialismus auch eine Reakti- on auf die von der Moderne vorgenommene Dekonstruktion der überkommenen Glaubens- und Herrschaftssysteme. Die Moderne hatte anstelle des Glaubens den Zweifel, anstelle des Gehorsams die Verantwortung gesetzt. Die faschisti- schen Ideologien bieten nun einen neuen "Glauben", der dem "Menschen" schmeichelt, anstatt ihn wie das Christentum zu demütigen, und delegieren die Verantwortung des Einzelnen wieder an den "Führer", wobei der Einzelne alle denkbaren Grässlichkeiten begehen darf, solange er nur Befehle ausführt.

 

Der Nazi berauscht sich im Nazitum am Gefühl der eigenen Überlegenheit wie an einer Droge. Er glaubt, die Welt aus den Angeln heben zu können und meint, die Kultur überhaupt überwinden zu können und zu sollen (deshalb zählt das System seine Verbrechen nicht als solche). Bei Beteiligung an Tötungshandlungen kann er in einen Blutrausch geraten - der dann Blutschuld nach sich zieht.  Mit der Illusion der Macht verfällt der Nazi der Macht der Illusion. Die Illusion erzeugt Kraft, und ist die Illusion wieder weg, ist ebenso die Kraft weg. Was die Illusion zerstören könnte, ist der Zweifel. Zweifel heißt Nachdenken, heißt Nicht-Idiotie. Wenn man sich gut fühlen will, muss man also Idiot bleiben. Die Parallelen zum narkotischen Suchtverhalten sind offensichtlich. Wie etwa ein Akoholiker, der das Saufen nicht lassen kann, treibt der Nazi auf den Untergang zu.

 

Denn die faschistischen Ideologien schmeicheln nur äußerlich, haben keine Sub- stanz. Die vorgenommene Trennung von "Mensch" und Mensch ist willkürlich, und somit fallen auch die "Menschen" unter die Verachtung, die der Faschismus für den Menschen übrig hat. Das  kann sich der Systemanhänger wegen der einge-bauten Denk-Zweifel-Blockade nicht einmal dann eingestehen, wenn es ihm be- wusst ist.

 

Durch das anscheinende Sprengen der Kulturgrenzen enthebt die menschenver- achtende Ideologie ihre Anhänger temporär der Nichtigkeit, sobald sie ein gewis- se Masse erreicht hat und ihre Verbrechen ein bedeutendes Maß erlangt haben. Tritt der letztere Fall ein, bleibt die Bewegung über ihr absehbares Ende hinaus bedeutend, und das ist für den verachtenden und verachteten Anhänger nicht zu verachten. Es ist wie beim Steigen auf den Mt. Everest, von dem auch nicht  jeder wieder lebend herunterkommt. Durch die Beteiligung am  Größten, im Fall der Nazis am größten Knall, wird man selbst Teil des Größten. Damit bleibt man in bleibender Erinnerung [und die Nachgeborenen wandeln sich von den größten Sündern zu den größten Büßern, auch hier ist das "Größte" entscheidend und verbindend], weshalb auch diese Arbeit geschrieben werden musste. Um den Preis und mit dem Mittel des größten Verbrechens stopft man das Loch in sich, das vom Bewusstsein der eigenen Bedeutungslosigkeit verursacht wird. Bedeu- tung erlangt man üblicherweise nicht durch Menschlichkeit, sondern durch Rück- sichtslosigkeit. Die Konsequenz ist die Produktion von Tragödien.

 

Das Nazitum war also eine Koalition einerseits von Süchtigen und Spinnern, die den Krieg bis zur nationalen Selbstzerstörung tatsächlich wollten oder billigend in Kauf nahmen, und einem Haufen Mitläufer, der wie immer nichts gesehen haben wollte, ignoriert und gekniffen und vor allem nichts unternommen, womöglich die Entwicklung doch selbst ebenfalls gebilligt hat.

 

Dass es über kurz oder lang Krieg geben würde, und wohl auch sollte, war also jedem klar. Was aber nicht klar war, und das gehört auch zur Idiotie des Systems, war, wozu der Krieg eigentlich dienen sollte. Wenn man einmal von Hitlers eigener, angesichts der Folgen überaus mickriger Vorstellung von ein paar hundert oder tausend Quadratkilometern in der Ukraine, damit die sich ver- größernden Deutschen auch in Zukunft genügend zu beißen haben, absieht, gab es keinerlei positive Kriegszielvorstellungen! Womöglich verließ man sich auf das "Genie" Hitler, der würde schon wissen, was zu tun ist. Was man sich zusätzlich nicht im mindesten vorstellen konnte, war die Möglichkeit, selbst vielleicht einer feindlichen Aggression, der Rest der Welt ist ja so morsch, zum Opfer zu fallen...

 

Das grundsätzliche Problem des nazistischen Kriegs ist, dass sich aufgrund der systemischen Denkblockade Sieg und Nazitum gegenseitig ausschließen. Sieg braucht Intellektualität, Intellektualität braucht Zweifel, und der ist im Nazisystem nicht vorgesehen. So resultierte aus der Irrationalität der Vorgängerströmungen die Irrationalität der nazistischen Lehre, daraus die Irrationalität des politischen Entscheidungssystems und daraus wieder diejenige des militärischen Planungs- systems.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es gibt immer einen Gegensatz zwischen Geist und Macht. Macht ist immer bis zu einem gewissen Grad idiotisch, sie muss Fehlentscheidungen durchsetzen, um ihre Strukturen zu erhalten. Im Krieg jedoch, das klingt jetzt komisch, ist aber so, muss die Macht bis zu einem gewissen Grad zurückweichen, und dem Geist, der sich ihr zur Verfügung stellt, Raum geben, um zu siegen (nach dem Sieg kann sich die Macht ja wieder breitmachen und die eigentlichen Gewinner um die Früchte des Erfolgs bringen).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Man sollte es sich allerdings mit der Verurteilung der Idiotie nicht zu einfach ma- chen. Weder ist Intelligenz eine Erfolgsgarantie, noch musste, wie die Ereignisse zeigten, der Untergang Deutschlands als Staat die Vernichtung des deutschen Volkes nach sich ziehen,  die Sieger hatten da andere Vorstellungen. Nazitum ist genuin idiotisch, aber Idiotie nicht genuin nazistisch, und das Verschwinden bzw. die weitestgehende Verdrängung des Nazitums bringt nicht  die Idiotie zum  Ver- schwinden. Man muss nicht die Forderung nach Einsicht fallenlassen, wenn man die generelle Fehlbarkeit des Menschseins einräumt. Urteilt man nach Erfolgsge- sichtspunkten,  dann war die Strategie der "idiotischen" Mitläufer, sich im System einzunisten, es für  kurzfristige Vorteile zu nutzen  und die sich abzeichnende Ka- tastrophe mit halbwegs heiler Haut zu überstehen, häufig  die Richtige.

 

Wollte man aber  eine neue Ordnung rücksichtslos durchsetzen, oder beim Ver- such spektakulär scheitern, musste man einem wie Hitler oder Stalin folgen. Sie waren auf ihre Art die Konsequentesten, und man konnte von ihnen am Ehesten eine völlige Umgestaltung der Verhältnisse erwarten.

 

Während aber das inhumane kommunistische System mit einem humanistischen Anspruch auftrat, der es für eine Weile konservierte, war dieses beim Nazisystem nicht der Fall. Deshalb war ein deutscher Sieg auch gar nicht in Hitlers Sinn. Denn in diesem Fall wäre die deutsche Idiotie bald in Bedrängnis, das deutsche Volk zum Verschnaufen und Nachdenken über den "Sinn" der Fortsetzung des Nazis- mus gekommen, Hitlers Herrschaft wäre in Frage gestellt worden. Für den "Künst- ler" Hitler war der Untergang in der Feuersbrunst vorteilhafter als Absetzung oder Rücktritt nach einem siegreichen Krieg und anschließendem ausweglosem Lebensabend.

Bei diesem Kapitel handelt es sich um auf ei- gene Faust angestellte sozialpsychologische Überlegungen, die sich gegen häufig ausge- sprochenen Annahmen der "Unerklärlichkeit" und "Schicksalhaftigkeit" des Nazitums richten, womit der Versuch einer Reinwaschung eige- ner Art verbunden ist.

Das KPD-Zitat findet sich häufiger, konkrete Fundstelle als erste auf die Einleitung folgende Aussage in Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939 - 1945, Band I S. 13, K. G. Saur Verlag GmbH, München 2003.

Es muss an dieser Stelle nicht der gesamte Text des Liedes "Es zittern die morschen Knochen" des Nazidichters Hans Baumann eingefügt wer- den. Jedenfalls heißt es darin "wars ein großer Sieg", als ob selbiger schon errungen sei. In ei- ner Strophe soll die Welt wieder aufgebaut wer- den, man ist sich da schon sehr sicher, dass man das noch kann. Katastrophale Zerstörung- en sind jedenfalls fest eingeplant.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auf eine Differenzierung zwischen Faschismus und Nationalsozialismus wird in diesem Rah- men verzichtet. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch die politischen Systeme von Hitlers Hauptverbündeten Italien und Japan keine

sonderlich Geistfördernden waren.

 

"Das wurzellose Böse des normalen Men- schen", dessen Wurzeln im linken Feld nach- gegangen wird, "ist die Wurzel des grenzenlo- sen Bösen". So die Philosophin Hannah Arendt zur Boshaftigkeit des Banalen. Die Banalität des Bösen war auch nazi-intern geläufig: "Diese Stunde der Idiotie: Wenn ich den Leuten gesagt hätte, springt aus dem dritten Stock des Colum- bushauses, sie hätten es auch getan," so Jo- seph Goebbels im Nachgang seiner berüchtig- ten Rede vom Totalen Krieg 1943 (SPIEGEL S. 97 Nr. 46/1967).

 

 

 

 

 

Bei Hitler haben wir bereits Paranoia und Schi- zophrenie diagnostiziert. Der im äußersten Ma- ße ausschließende Charakter der Nazitums hebt weiter die dissoziale Persönlichkeitsstö- rung sozusagen auf eine gesellschaftliche Ebene, mit den Phänomenen der Aggression und der psychologischen Rationalisierung in Form der Schuldzuweisung an die Ausge- schlossenen, insbesondere die Juden (eigene Überlegung).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abgesehen von der generellen Verwerflichkeit eines Angriffskrieges hätte man nach den Maßgaben des Nazisystems einen solchen Vorstellungen entsprechenden, ideologisch damit konformen Weltkriegsplan erwarten kön- nen (bzw. unterstellt man heutzutage gerne seine Existenz), beispielsweise die Sowjetuni- on als Exponenten der konkurrierenden Ideo- logie vom Globus zu fegen, oder das "Weltju- dentum" als den "Verderber der Menschheit", oder wie man die Juden sonst diffamieren will, zu vernichten, oder wenigstens ein "Großger- manisches Reich" zu schaffen, das irgendwie dem deutschen Weltmachtanspruch gerecht geworden wäre. Aber derartiges existierte nicht, weder ist in "Mein Kampf" davon zu lesen, auch nicht in dessen unveröffentlichter Fortsetzung ("Hitlers zweites Buch"), genau so wenig in der viel zitierten Hoßbach-Niederschrift vom Herbst 1937, als Hitler der Militärführung das Bevorste- hen des Krieges auseinandersetzte. Hitlers "Le- bensraumkrieg" war eigentlich nur ein Agrar- raumkrieg, für den er offensichtlich fest mit der Genehmigung der Westmächte und Polens rechnete (zumindest auf der einen Ebene seiner

schizophrenen Anschauung, während die ande- re, wie hier argumentiert, die Gesamtzerstörung Deutschlands und wovon immer zusätzlich beinhaltet).

Auch der Angriff auf die Sowjetunion 1941, der gerne für die Begründung der o.a. Klischeevor- stellungen herangezogen wird, folgte in Wirk- lichkeit, wie noch zu zeigen sein wird, einem ganz anderen Motiv, egal, was Hitler nach Be- ginn des Angriffs von sich gegeben haben mag.

<20.05.2018 zum "zeigen" siehe 5. Kapitel im

5. und 4. Kapitel im 6. Teil>

 

 

 

 

 

Stalin und Churchill wurden von ihren General- stäben nach und nach beiseite gedrängt, Roo- sevelt führte ohnehin locker. Der meist heitere, gelassene Roosevelt richtete dabei ein kreati- ves Chaos an, ganz anders Hitler, der außer sich niemanden gelten ließ, sich unsystema- tisch in alle Aspekte zumindest der Heeres- kriegsführung einmischte und dessen Chaos dem Wortsinn entsprach. Statements bei Ri- chard Overy, Die Wurzeln des Sieges, DVA- GmbH Stuttgart/München 2000, zu Stalin S. 331, zu Churchill S. 342ff, zu Roosevelt S. 334ff und zu Hitler S. 351ff. Overy blendet strategische Mängel als Ursache der Niederlage fast völlig aus. Eine Strategie, die real nicht existierte, ist nun einmal lediglich in kontrafaktischer Ge- schichtsschreibung behandelbar.

Nach dem Krieg schob zumindest Stalin zwei seiner verdientesten Militärführer (Schukow und Generalstabschef Antonow) auf Provinzposten ab, den Luftwaffenchef Nowikow (Overy S. 274) ließ er einsperren.

 

Nach den obigen Ausführungen irrt Klaus Hilde- brand, wenn er ausführt: "Der Diktator erreichte mithin keine der ihn leitenden Alternativen ganz: Er führte Deutschland weder zur Weltmacht noch in den Untergang, doch verfehlte er beide Ziele 1940/41 und 1944/45 nur knapp." Bei den vorliegenden "Führer"-Voraussetzungen war das Erringen eines Weltmachtstatus ausgeschlos- sen, und einen Untergang Deutschlands kann man auch dann konstatieren, wenn das Ausmaß der Katastrophe die 100% nicht erreicht (Zitat S. 118 in "Das Dritte Reich", Oldenbourg Wissen- schaftsverlag GmbH, München 2009).

 

 

 

 

 

 

 

Bzw. der es in Ostasien und Kuba noch kon- serviert.

Diese Überlegungen sind natürlich spekulativ. Dagegen steht die Nachkriegs-Vorstellung eines Hitlers als gigantomanischer Baumeister. Ich halte nach allen Eindrücken die bereits am Ende des ersten Kapitels dieses Teils zitierte These Guntram von Schencks vom inszenierten infer- nalischen Untergang Deutschlands, und Hitlers mit ihm, für überzeugender.

Ich denke, man sollte aus dem Ergebnis auf die Motivation schließen. Hitlers vernünftige und konstruktive Momente waren nur Tarnung und Vehikel für seine gegen sich selbst und Deut- schland gerichtete Zerstörungswut. Sich selbst hätte er ohne weiteres umbringen können, aber um Deutschland zu zerstören musste er schon eine besondere schizophrene Leistung erbring- en. Durch die Judenvernichtung sollte Deutsch- land dann noch über seine eigene Vernichtung hinaus verflucht werden.