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Zur Appeasement-Auffassung von Manfred Rauh

Wie bereits in der Einleitung ausgeführt,  geht meine Motivation für das Verfassen dieser Arbeit zum nicht unwesentlichen Teil auf die Lektüre des Werks von Man- fred Rauh zum Zweiten Weltkrieg zurück, das ich im weiteren Verlauf auch immer wieder als Quelle verwendet habe. Genauso beruht die für diese Arbeit das ang- elsächsische Verhalten kennzeichnende Grundthese, die als "Chimäre" bezeich- nete Furcht vor einer deutsch-russischen Verbindung, auf einem von Rauh geäu- ßerten Gedanken, entsprechend auch  die Konsequenz daraus, nämlich die beiden als potenzielle Verbündete Verdächtigten gegeneinander in den Krieg zu treiben.

 

Auch für den Zweiten Weltkrieg finden sich bei  Rauh hierzu passende Aussagen. Um so erstaunlicher ist es jedoch, dass er beim traditionellen Verständis der App- easement-Politik bleibt. Da diese Politik, außer vielleicht von rechtsradikaler Seite, bis heute völlig falsch verstanden wird, halte ich eine intensivere Auseinander- setzung mit den betreffenden Stellen in Rauhs Werk für notwendig.

 

 

 

Appeasement galt und gilt entweder als ehrlicher, aber erfolgloser Versuch der Friedenssicherung, oder aber als so naives wie sinnloses Kriechen vor einem gefräßigen Diktator, der ohnehin nur mit Gewalt zu stoppen sein würde. Ihr vor- gebliches Ziel, da sind sich die Betrachter einig, hat die Appeasement-Politik je- denfalls verfehlt: in Europa den Frieden zu sichern.  Vom Ergebnis her macht die Appeasement-Politik also keinen Sinn.

 

Von der Absicht her passen beide o.a. Interpretationen der Appeasement-Politik zur Alleinschuldthese Deutschlands bzw. Hitlers am Zweiten Weltkrieg und werden deshalb nicht weiter hinterfragt. Rauh jedoch hat bereits vor seiner Aus-  einandersetzung mit der Politik der Appeaser nach Kriegsbeginn den Tabubruch begangen, das "vordergründige Täter-Opfer-Schema" der Kennzeichnung des Zweiten Weltkriegs als antinazistischen Kreuzzug nicht anzuerkennen.

 

Wendet man jedoch, wie in den Kapiteln zum fünften Teil dieser Arbeit ausge- führt, die Grundthese der Chimärenfurcht und ihrer Abhilfe auch auf die Appease- ment-Politik an,  so erscheint diese mit einem Mal als erfolgreich: die für den Ausbruch eines deutsch-sowjetischen Krieges notwendige Grenze zwischen bei- den Mächten wurde hergestellt.

 

Wenn die Appeasement-Politik also weder geeignet war noch wirklich das Ziel hatte, den neuen Krieg zu verhindern, dann kann erwartet werden, dass die han- delndenden Personen auch nach Kriegsausbruch keine andersgerichtete Politik verfolgten. Geht man jedoch, wie Manfred Rauh, von der gegenteiligen, tradi- tionellen Auffassung aus, missversteht man diese Politik zwangsläufig. Diese Missverständnisse näher zu betrachten lohnt, weil sie auch andernorts auftreten können.

 

Wie im Jahr 1914 war auch im Jahr 1939 Großbritannien die für Krieg oder Frieden in Europa maßgebliche Macht, deshalb wandte sich das NS-Regime ja auch an Großbritannien, um eine Übereinkunft bezüglich der anstehenden Proble- me zu erreichen. Großbritannien wiederum musste eine Entscheidung treffen und hatte sie getroffen. Es machte sich entweder von einer kontinentaleuropäischen Macht  bzw. einem solchen Mächtekonglomerat abhängig - das war nicht er- wünscht, dagegen  hatte es jahrhundertelang in wechselnder Koalition gekämpft. Oder es machte sich von den USA abhängig, was bedeutete, dass die USA den Frieden diktieren und das Empire über kurz oder lang verlustig gehen würde. Diesen  Weg hatte man gewählt, nachdem man so an der gemeinsamen angel- sächsischen Weltvormachtstellung teilhaben konnte.

 

 

 

 

 

 

 

 

Deshalb kann die Annahme, Großbritannien hätte 1939/40 Hitlers Regime besei- tigen wollen, nicht richtig sein. Weder ein Putsch in Deutschland noch ein militä- rischer Sieg über Deutschland gemeinsam mit Frankreich kamen Großbritannien gelegen. Im zweiten Fall hätte Großbritannien ohne die USA, aber in enger An- lehnung an Frankreich und die Reste des geschlagenen Deutschlands die Sowjet- union eindämmen müssen.  Gleichermaßen hätte Frankreich einen Lohn für seine Dienste verlangen können - nämlich, was ihm in  Versailles verweigert wurde: die Rheingrenze, vielleicht auch die territoriale Zersplitterung oder die Ostverschie- bung Deutschlands. In beiden Fällen, insbesondere aber im ersten, hätte man mit einer "preußisch-militaristischen" Nachfolgeregierung Hitlers kooperieren müssen, die man so fälschlich wie manisch eines erneuten Zusammengehens mit der Sowjetunion verdächtigte (die Möglichkeit hätte ja immerhin bestanden).

 

 

 

 

 

 

 

Für Großbritannien gab es also nur eine Chance, diese unangenehmen Aussich- ten zu vermeiden: den Krieg so "gut" wie möglich in die Länge zu ziehen, bis sich die USA doch noch zum Kämpfen entschließen würden. In der Zwischenzeit konnte (und würde) eintreten, was die Angelsachsen eigentlich ersehnten: ein deutsch-sowjetischer Krieg.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Frankreich dagegen musste nolens volens mitmachen, ohne Großbritannien war und blieb es handlungsunfähig und wäre im Fall eines britischen oder eigenen Kriegsausstiegs ohne Aussicht auf Befreiung Deutschland ausgeliefert gewesen. Da seine Expansionsgelüste auf Deutschlands Kosten chancenlos waren, blieb ihm nur die Minimierung seiner Verluste. Entsprechend gestaltete sich dann auch die französische Kriegführung (auf die im Rahmen dieser Arbeit nur am Rande eingegangen wird). Ein Sieg der französischen Waffen, aber auch ein zähe, lang- dauernde Verteidigung durch reguläre Truppen hätte also nur angelsächsischen Interessen gedient, vom späteren Kollaborationspräsidenten Petain ist der Aus- spruch überliefert: "Wir können nicht schon wieder völlig ausbluten" (Fundstelle https://www.2mecs.de/wp/2011/04/philippe-petain-frankreich-kooperiert-mit-nazi-deutschland/).

 

Aus diesen Gründen kann man  zu den obigen Ausführungen konträre Aussagen der Appeaser (Beispiele rechts) nicht für bare Münze nehmen, möglicherweise wurden für die Beurteilung durch die Nachwelt falsche Fährten gelegt. Denn in Wirklichkeit bestand für Großbritannien keine Möglichkeit zur Änderung seiner Politik. Man beurteile die Herren nach ihren Taten, nicht nach ihren Worten. Es gab für die betreffende Periode keinen Friedensplan, insbesondere konnte es keinen geben, der eine irgendwie geartete deutsche Großmacht einschloss, und aus diesem Grund gab es keine glaubwürdigen britischen Friedensaktivitäten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Manfred Rauh beleuchtet intensiver den deutschen, als Putschführer in Frage kommenden  Heeresgeneralstabschef Halder,  gegenüber Zweifeln von Zeitzeu- gen und anderen Historikern verteidigt er insbesondere dessen Urteilsfähigkeit. Auf diese hätte er sich zur Bewertung der britischen Friedensabsichten verlassen sollen. Für Halder waren die völlig unzureichenden britischen Signale schließlich nur noch eins: Bluff. Da er gleichzeitig aufgrund des Erstarkens der Wehrmacht große Erfolgsmöglichkeiten sah, wandte er sich von Putschgedanken ab und der Planung der kommenden Feldzüge zu.

Literaturangabe zu Rauh in der Einleitung. Im folgenden sind Zitate aus seinen ersten beiden Bänden mit [I] bzw. [II] gekennzeichnet.

Rauh verortet erkennbar die Entscheidung [und damit den wesentlichsten Schuldanteil] über Krieg oder Frieden bei Stalin, infolge dessen Unterschrift unter den Pakt mit Hitler ([I], S. 356).

Initial bei Rauh im Bezug auf Grey, bereits zitiert im Unterkapitel "Kriegsgeständnisse" im ersten Teil, [I] S. 10, 52.

 

 

Siehe Kapitel "Trio Infernal" in diesem Teil, [I] S. 334, 335f. Traditionelle Auffassung des Appea- sements als friedenswahrende Politik ds., S. 337.

Klüver (Literaturangabe im 3. Kapitel dieses Teils) schlussfolgert auf S. 39, "..., daß die "Ap- peaser" keineswegs deutschen revisionisti- schen Zielen in Europa wohlwollend gegenüber-

standen."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[II], S. 53, zuvor zitiert in "1939: Weitere Kriegs- anbahnung" in diesem Teil.

 

 

 

Siehe hierzu die detaillierte Argumentation die- ses fünften Teils der vorliegenden Arbeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Großbritannien "tonangebender Teil der Allianz", [II], S. 96 (Formulierung dort in Bezug auf die identische Beurteilung durch den deutschen Widerstand).

Britische Entscheidungsfindung siehe Kapitel "Trio Infernal", hier Zitate [I], S. 320, 331, 354 und [II], S. 7, 59, 60, 61, neu ds., S. 71f.

Bekannte Politik der "Balance of Powers".

Wiederholung des vorherzusehenden antikolo- nialen amerikanischen Friedensdiktats (bereits [I], S. 331) in [II], S. 72. "Todeskampf des briti- schen Empire" konstatiert in ds., S. 79.

Wiedereinschwenken der Briten auf die "angel- sächsische Gesamtstrategie" (hierzu siehe Schluss des Unterkapitels "Kriegsgeständnisse"

im ersten Teil), nachdem man mit dem auf den Ersten Weltkrieg folgenden Waffenstillstand be- fristet eine Überlegenheit über die USA erzielt und so einen Friedensschluss gegen die Vor- stellungen Präsident Wilsons durchgesetzt hat- te (siehe hierzu sechstes Kapitel im zweiten Teil).

 

Persönliche Schlussfolgerung, die abstrakte Vorstellung eines Friedens lediglich infolge der Beseitigung Hitlers respektiert die strategische Gesamtlage nicht.

 

 

 

Erneutes Aufflackern der französischen Expan- sionsbestrebungen [II], S. 76ff. Formulierungen "Ostverschiebung" S. 77, "Zersplitterung" S. 84.

 

Zu diesem "traditionellen britischen Deutsch- landbild" bereits Zitate im 4. Kapitel des 4. Teils ([I], S. 335, 335f) und 3. Kapitel dieses Teils (ds., S. 308), neuer Ausdruck [II], S. 81. Die Tat- sache, dass Hitler einen Pakt mit Stalin schloss,

bedeutet nicht automatisch, wie Rauh gegentei- lig suggeriert (ds., S. 73f), der deutsche, hitler-stürzende Widerstand hätte davon Abstand genommen, also hätte der Sturz Hitlers nicht zwangsläufig das Ende der Chimärenfurcht be- deutet.

 

"Sitzkriegsstrategie" (persönlich interpretiert, ähnliche Vermutung Rauhs ds., S. 72).

 

Vielleicht sind Eintragungen in Cadogans Tage- buch hier aussagekräftig (Dilks, Literaturhinweis siehe 4. Kapitel 4. Teil), auch wenn sie zu einer späteren Periode gehören (unmittelbar vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion). Am 31. 05.1941 wünscht Cadogan, dass Deutschland sich in Russland verausgabt, am 11.06.1941 berichtet er, dass der britische Informationsmi- nister Alfred Duff Cooper ein Geheimnis verrät ("had spilled the beans about German-Russian situation") nachdem ein befürchtetes Nachge- ben Stalins dem britischen Spiel mit den Rus- sen komplett in die Quere kommen würde ("which would compeletely queer our pitch with the Russians if there was a chance of our play- ing with them", erstes Zitat S. 382, zweites S. 387, auch hier muss man nicht unbedingt da- von ausgehen, dass derartige Gedanken nicht schon vor dem Frühjahr 1941 in der britischen Regierung gehegt wurden).

 

Frankreich besaß keine tragfähige Alternative ([II], S. 74), und Großbritannien war der "tonan- gebende Teil" (s.o., S. 96). Die Schuld für das Scheitern der Friedenskontakte bei Frankreich zu verorten (angeblich deshalb keine bindenden britischen Zusagen an den deutschen Wider- stand, ds., S. 98) geht daher fehl. Großbritan- nien hätte jederzeit aus dem Krieg aussteigen können (Spekulation auch seitens Rauhs, ds. S. 96). Das dann allein dastehende Frankreich (dem dann auch noch Italien hätte gefährlich werden können) würde alsbald selbst Frieden schließen müssen.

 

 

Privatbriefe Chamberlains, nachdem ein ameri- kanisches Eingreifen Großbritannien teuer zu- stehen kommen würde ds., S. 72, und zur Be- seitigung Hitlers als Friedensvoraussetzung ds.,

S. 73, dieses auch öffentlich in Form einer Rundfunkrede vom 26.11.1939, S. 74f. Halifax sehnte sich angeblich nach einer deutschen Revolution, so schrieb er an Chamberlain, ds., S. 74. Ds. Chamberlain an seine Schwestern zu Göring als Übergangspräsident, wobei auch die Friedensbestrebungen des Letzteren zu nichts führten, siehe fünftes Kapitel dieses Teils.

Dass Chamberlain bereits in seiner Antwortrede

vom 12.10.1939 auf Hitlers "Friedensangebot" von sechs Tagen zuvor nur Freiheit für Polen und Tschechen, nicht aber expressis verbis die Wiederherstellung ihrer Staaten gefordert hatte (ds., S. 75), ist lediglich Rabulistik (persönliche Einschätzung).

Wozu Chamberlain ausgerechnet gegenüber Sumner Welles territoriale Zugeständnisse an Deutschland äußerte, die den Krieg überflüssig gemacht hätten (ds.), erschließt sich nicht. Sumner Welles, auch hier siehe fünftes Kapitel dieses Teils, durfte diese nicht an Mussolini weiterkommunizieren.

Im Gegensatz zu den Ausführungen Rauhs se- he ich keinen "Plan" Chamberlains (ds., S. 80) und keinen guten Willen der Appeaser (ds., S. 83), jedenfalls gelangten gewiss "keine eindeu- tigen Zeichen" an den deutschen Widerstand (ds., S. 83f).

 

Ds.,  S. 98ff, 110f.

 

 

 

 

"Bluff", so Halder im Januar 1940 ds., S. 109, auch zu diesem Zeitpunkt "Erfolgsmöglichkei- ten" ds., S. 110.