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Der "See-Löwe" - eine "See-Chimäre"

Das Fabeluntier "Chimäre" nimmt bekanntlich im Rahmen dieser Arbeit eine be- sondere Stellung ein, als Symboltier eines wie kein zweites folgenreichen Hirnge- spinstes. Der Seelöwe, eine im Wasser gewandte, an Land aber unbeholfene Tierart, diente als Symboltier für eine geplante Landung deutscher Truppen in England. Diese von Hitler zwar angeordnete, aber nie durchgeführte Aktion war in Wirklichkeit auch nur ein Hirngespinst, eine Chimäre. "Seelöwe" auszuführen war unter den obwaltenden Umständen weder möglich noch wirklich vorgesehen.

 

 

Nach dem Fall Frankreichs und der anhaltenden Friedensunwilligkeit Großbritan- niens lag eine Invasion in England natürlich nahe. Die Briten hatten zu Lande schwere Verluste erlitten und nur mit Mühe den Großteil ihres Expeditionskorps von Dünkirchen zurück auf die Insel gerettet, Waffen und Ausrüstung mussten sie zumeist zurücklassen. Deutschland hatte aber praktisch keine Erfahrung mit amphibischen Operationen, auch wenn das britische Heer angeschlagen schien, musste doch  mindestens für eine gewisse Zeit mit seinem konzentrierten Wider- stand gerechnet werden, außerdem erscheint ein taktischer Rückzug der briti- schen Truppen ins Innere der langgestreckten Insel mit der Möglichkeit aussichts- reicher Gegenangriffe durchaus denkbar. Der Einsatz deutscher Überwasserschif- fe war vorerst so gut wie ausgeschlossen, die Marine hatte im Rahmen des  Skandinavienunternehmens beträchtliche Verluste erlitten. Außerdem wollte Hitler, wie wir wissen,  bereits im Sommer 1940 lieber die Sowjetunion angreifen (allen "rassentheoretischen" Gedankenspielern ist entgegenzuhalten, dass Hitler bei einer Besetzung Großbritanniens einige Millionen rassisch ach so hochstehender Briten zu seiner  Bestimmung in die Hände gefallen wären).

 

Die übliche Darstellung zum Scheitern des "Seelöwen" bzw. zur vorangehenden "Luftschlacht um England" ist dabei folgende: Hitler hatte zumindest die Vorberei- tung der Landung angeordnet. Dazu war die Erringung der Luftherrschaft wenigs- tens über dem Landegebiet erforderlich. Für dieses Ziel musste zunächst die britische Streitmacht an Jagdflugzeugen ausgeschaltet werden. Die für diese Aufgabe nur eingeschränkt taugliche deutsche Luftwaffe machte sich auch, mit mehr oder weniger Erfolg, daran, und hätte einen Abnutzungskrieg gegen die Royal Air Force auf die Dauer für sich entschieden. Durch den Zielwechsel von Flugplätzen und anderen  luftkriegswichtigen Einrichtungen wie Radarstationen und Flugzeugfabriken auf Wohngebiete und taktische Fehlentscheidungen wie die enge "Fesselung" der Jagdmaschinen an die Bomber, was den Geschwindigkeits- vorteil ersterer zunichte machte, wurde der Erfolg jedoch vereitelt. Das Fighter Command erholte sich und fügte den Deutschen so schwere  Verluste zu, dass das Vorhaben "Seelöwe" aussichtslos wurde. Am 17.09.1940 verschob es Hitler auf unbestimmte Zeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ungeachtet von Überlegungen, ob in der obigen Darstellung die Fakten stimmen, ist auf jeden Fall die Interpretation falsch. Denn der Zeitrahmen der  Ereignisse beträgt nur gut einen Monat (Beginn der Angriffe erst am 13.08.1940, pro- pagandistisch "Adlertag"). Innerhalb von 4 Wochen die RAF niederringen zu wollen erscheint so oder so illusorisch, auch die deutsche Luftwaffe flog trotz alliierter Luftherrschaft bis Kriegsende Einsätze. Ab Mitte September besteht aufgrund der sich verschlechternden Wetterbedingungen am Kanal keine Möglichkeit einer erfolgreichen Überquerung von Landungsstreitkräften unter den damaligen militärisch-technischen Bedingungen und Schwierigkeiten für die deutsche Seite mehr, da Landefahrzeuge nur improvisiert werden konnten und das vorhandene Material mit Wind und Wellen im Herbst nicht fertiggeworden wä- re. Die britische Jägerwaffe alleine hätte wohl gegen deutsche Invasions-streitkräfte wenig ausgerichtet. Luftangriffe hätten sich also auch gegen die britische Bomberwaffe und zur Invasionsabwehr  benutzbare Seestreitkräfte richten müssen. Derartige Angriffe gab es aber nicht. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass "Seelöwe" überhaupt nicht zur Ausführung vorgesehen war.

 

 

 

 

Eine Landung in England hätte also von vornherein nicht vor Frühjahr 1941 statt- finden können. Das wäre auch aus einer ganzen Reihe anderer Gründe heraus anzuraten gewesen. Bei der Vorstellung einer "schnellen" Landung in England handelt es sich um die Übertragung der "Blitzkriegsgedanken" auf die speziellen Verhältnisse der britischen Insel. Wie wir aber im ersten Kapitel dieses  Teils ge- sehen haben, konnten Blitzkriegsunternehmen für die Achsenmächte aber immer nur Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck sein, wollten sie den Krieg trotz Unterle- genheit an Zahl und Rüstungspotenzial doch gewinnen.  Der Krieg gegen das bri- tische Empire musste demnach  prinzipiell ein strategischer sein, ohne enge zeit- liche Begrenzung und örtliche Einschränkung. Diese Situation hätte einen passenden See-Luftkrieg gegen die von Einfuhren abhängige Insel erfordert, die dafür notwendigen, zwischenzeitlich nicht weiterentwickelten Flugzeugtypen hätte man schleunigst wieder aus dem Hut ziehen müssen, um sie baldmöglichst einsetzen zu können (es ist allerdings sehr fraglich, ob der Zeitverlust innerhalb weniger Monate hätte aufgeholt werden können). Ebenso muss die Bindung deutscher Kräfte für die "Mittelmeer-Strategie" berücksichtigt werden, für deren Umsetzung auch sicher einige Monate zu veranschlagen waren. Schließlich hätte die Einübung eines weitreichenden See-Luftkriegs zur (tatsächlichen) Isolierung Großbritanniens eine unerlässliche Grundlage für die zu erwartende transoze-anische Kriegführung  gegen die USA dargestellt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Selbst unter optimalen Vorbedingungen hätte eine deutsche Landung in England im Frühjahr 1941 nicht unbedingt von Erfolg gekrönt sein müssen, auch wenn man annimmt, dass zu diesem Zeitpunkt die USA noch nicht in der Lage waren, Großbritannien effektiv zu helfen. Denn die Bindung deutscher Truppen  auf eng- lischem Boden wäre der optimale Zeitpunkt für Sowjetdiktator Stalin gewesen, seinerseits zum Angriff zu schreiten. Ob derartige Unterstellungen irgend eine his- torische Berechtigung besitzen, spielt dabei keine Rolle. Stalins Interesse war es schließlich nicht, wie wir wissen, einer  kapitalistischen Seite zum Sieg zu verhel- fen, sondern die Kapitalisten sollten sich gegenseitig aufreiben, und die Sowjet- union würde Nutznießer sein. Die Option zum Angriff auf Deutschland und seine Verbündeten besaß die Sowjetunion  zu jeder Zeit.

 

 

 

 

 

 

 

Die Fortsetzung des deutschen Luftkriegs in Form von Nachtangriffen auf briti- sche Städte hatte keinerlei strategische Bedeutung und stellte Terror in Reinkultur dar. Weil man von der Wirksamkeit eines "moral bombing" [auf beiden Seiten und insbesondere gegen eine "arische", also von vornherein durch Härte nicht zu be- eindruckende Bevölkerung] nicht ausgehen konnte, muss es sich bei diesem Vor- gehen um nichts anderes als Strafaktionen gegen die fortgesetzte britische Unbot- mäßigkeit handeln.

Zum Begriff der Chimäre insbesondere 1. Kapi- tel im 1., 4. und 5. Kapitel im 2., 1. Kapitel im 3., 2. und 4. Kapitel im 5. Teil, Buchbesprechung "Wormer" im 1. Teil.

Zitate hier wieder hauptsächlich aus Andreas Hillgruber, Hitlers Strategie 1940/41, Literaturan- gabe 5. Kapitel im 5. Teil, abgekürzt auch hier wie in den Vorkapiteln wieder mit [H], weggelas- sen für unmittelbar folgende Zitate aus dersel- ben Quelle.

 

 

 

 

 

 

 

Nach [H], S. 166, war das britische Heer infolge "Dünkirchen" zu einer nachhaltigen Verteidigung der Insel nicht fähig.

Persönliche Überlegungen.

 

 

Auflistung der Schiffsverluste S. 50.

 

S. 5. Kapitel und Buchbesprechung "Hofer" im 5. Teil. "Rassentheoretische Gedankenspieler" etwa Rudolf Heß und Albrecht Haushofer, Zitate [H], S. 155, 156 im 1. Kapitel dieses Teils.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tagesangriffe auf London waren auch dadurch bedingt, die RAF über der britischen Hauptstadt zum Kampf stellen zu wollen, nachdem sie be- gonnen hatte, sich ins Landesinnere zurückzu- ziehen (S. 173).

Die Wirkung des "Fesselungsbefehls" wird un- terschiedlich interpretiert. Während Cajus Bek- ker (Angriffshöhe 4000, Bechtermünz Verlag (Weltbild), Augsburg 1998, S. 219) den Frust eines deutschen Jagdfliegers beschreibt, formu-

liert Mike Spick (Luftkampf, Karl Müller Verlag, Erlangen 1997, S. 44): "Die deutschen Jagdpi- loten, die auf die englischen Angriffe nur reagie- ren durften, waren mit der Lage sehr unzufrie- den. Aber die Verlustzahlen sprechen eine deut- liche Sprache. In den nächsten Wochen verring-

erten sich die deutschen Verluste an Bombern um mehr als die Hälfte und die an Me 109 blie- ben stabil."

Das Datum 17.09. wird häufiger genannt (neben

anderen, Wikipedia zur Operation Seelöwe führt den 15.10. an).

 

 

 

 

 

Der Erfolg eines strategischen Luftkriegs durch eine hierfür nicht geeignete Streitmacht ([H], S. 173) erscheint generell ausgeschlossen, desto mehr, als dass dieses in kurzer Zeit erfolgen soll.

 

 

Zur "äußerst primitiven Invasions-"Armada"" S. 168f, bes. Anm. 119, diese hätte sich nur mit "großer Langsamkeit und Schwerfälligkeit" be- wegen können [und wäre damit den Elementen ausgeliefert gewesen]. Keine deutschen Angrif- fe auf die "schnelle Eingreifgruppe" der Royal Navy in Sheerness und Harwich S. 174 [von speziellen deutschen Angriffen auf Plätze des Bomber Command ist ebenfalls nichts bekannt].

S. 170f zu Überlegungen, dass "Seelöwe" nie ernsthaft geplant war.

 

 

Zur Deinspiration Hitlers in Bezug auf derartige

koordinierte Maßnahmen S. 171 Anm. 131.

 

 

 

 

 

 

<Einfügung 07.12.2017>

Zu stratgegischen, auch und insbesondere ge-

gen Großbritannien gerichteten Überlegungen

wird auf das 1. Kapitel dieses Teils verwiesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bekanntlich spielte die britische Insel eine trag- ende Rolle für den US-amerikanischen Luftkrieg über Europa ab 1943 und die spätere amerika- nische Landkriegführung an der europäischen Hauptfront ab 1944. In der nachgängigen Be- trachtung erscheint deshalb eine deutsche Inva- sion in Großbritannien, unter Hilfestellung der anderen Achsenmächte, die insbesondere See- streitkräfte und -transportraum zur Verfügung hätten stellen können (nach Erfolg der Strate- gie s. 1. Kapitel), und müssen, unerlässlich!

Die entscheidende Bedeutung des britischen Zusammenbruchs (S. 376, gemeint war aller- dings vor einem amerikanischen Kriegseintritt) sah die deutsche Botschaft in den USA jeden- falls richtig.

 

 

 

 

 

 

 

Stalin hätte noch als "amerikanischer National- held" gegolten, wäre er den Deutschen in den Rücken gefallen (S. 217 Anm. 48, zum Um- schwung der bis dato isolationistischen ameri- kanischen Volksmeinung zugunsten Großbritan- niens ab August 1940 S. 101). Nach Aussagen des von der deutschen Abwehr angezapften sowjetischen Botschaftspersonals in Berlin war die Möglichkeit eines sowjetischen Angriffs auf Deutschland, würde dieses bei der Invasion Englands auf Schwierigkeiten stoßen, nahelie- gend (S. 429 Anm. 18 <nachgetragen 10.09.. 2017>).

Zur sowjetischen Zielsetzung s. Kapitel "Trio In- fernal" im 5. Teil.

 

 

 

Zur unterschiedlichen Beurteilung des "moral bombing" in der deutschen Luftwaffenführung Stilla, Literaturhinweis im Vorkapitel, S. 82 Anm. 382, zur militärischen Bedeutungslosigkeit der Nachtangriffe ds., Anm. 386, entgegen [H], S. 158, Anm. 67. Schlussfolgerung persönlich.

In Folge der mangelnden strategischen Bedeu- tung und Wirkung handelte es sich bei der ge- samten "Luftschlacht" für die deutsche Seite um

nichts als sinnlose Verschwendung von Men- schen und Material (so sieht es auch Rauh, Lite-

raturangabe s. Einleitung, Bd. II, S. 304).